William Wagner Russell - 1905 - 1992
William Wagner „Bill“ Russell (1905–1992)
war eine außergewöhnliche Figur in der amerikanischen Musikszene, dessen vielfältige Karriere ihn vom Musikpädagogen und Avantgarde-Komponisten zu einem der wichtigsten Historiker, Produzenten und Bewahrer des frühen Jazz machte. Sein Leben war eine unermüdliche Hingabe an die Musik in all ihren Facetten.
Frühe Jahre und vielseitige Ausbildung
Geboren am 26. Februar 1905 in Canton, Missouri, begann Russells musikalische Reise früh mit dem Geigenspiel. Er besuchte ab 1920 das Quincy Konservatorium und ab 1923 das Culver Stockton College, wo er Chemie, Mathematik und Musikpädagogik studierte. Nach seinem Abschluss im Jahr 1926 unterrichtete er zunächst im Mittleren Westen, bevor er um 1927 nach New York City zog. Dort setzte er seine pädagogische Tätigkeit auf Long Island fort und vertiefte gleichzeitig seine musikalischen Fähigkeiten: Er nahm Geigenunterricht beim Konzertmeister der New Yorker Philharmoniker, Max Pilzer, und studierte bis 1934 am Lehrer-Kolleg der Columbia University.
Mit dem festen Ziel, Komponist zu werden, änderte er 1929 seinen Nachnamen von Wagner in Russell. Er widmete sich der modernen Musik (New School), insbesondere Kompositionen für reine Schlagzeug-Ensembles. Sein Interesse an Rhythmen führte ihn 1932 nach Haiti, wo er lokale Schlagzeug-Rhythmen studierte, was sich in seinem Ballett "Ogou Badagri" von 1933 widerspiegelte.
Jazz-Pionier, Sammler und Forscher
Von 1934 bis 1940 tourte Russell mit den Red Gate Puppet Players, einem chinesisch inspirierten Puppentheater, für das er die Musik komponierte. Diese Reisen nutzte er intensiv, um seine wachsende Sammlung von Jazz-Platten im ganzen Land zu erweitern. 1935 gründete er in New York zusammen mit dem Maler Steve Smith den "Hot Record Exchange", der bis 1940 Bestand hatte.
Sein Interesse am frühen Jazz führte ihn 1937 erstmals nach New Orleans, der Wiege dieser Musik. 1938 traf er Jelly Roll Morton in Washington D.C., eine Begegnung, die später in ein umfangreiches Buch über Morton mündete. Russell trug auch zu den frühen Jazzbüchern bei, wie 1939 mit drei Kapiteln des renommierten Werkes "Jazzmen", darunter das wichtige Kapitel über New Orleans. Während Aufenthalten mit dem Puppentheater in Kalifornien (1939/40) vertiefte er seine akademische Bildung durch Fernkurse an der University of Chicago (Bachelor am Stockton College) und studierte in Berkeley und an der UCLA bei dem berühmten Komponisten Arnold Schönberg.
Plattenproduzent und Chemiker in Pittsburgh
1940 zog Russell nach Pittsburgh zu seinem Bruder und arbeitete bis 1947 hauptberuflich als Chemiker bei der Pennsylvania Transformer Corporation – ein ungewöhnlicher Beruf für einen Musiker, der Russells Vielseitigkeit unterstreicht. Das Haus seines Bruders in Pittsburgh wurde zum Ausgangspunkt seines 1944 gegründeten Plattenlabels "American Music". Russell war ein Pionier bei der Dokumentation vergessener Jazz-Musiker: Schon 1942 traf er in New Orleans Bunk Johnson und machte Aufnahmen mit ihm (weitere 1943 in San Francisco). 1943 folgte eine zweite Reise nach New Orleans, wo er mit George Lewis und anderen Vertretern des frühen New Orleans Jazz aufnahm, die damals fast in Vergessenheit geraten waren. Aufgrund der Rassentrennung mietete er Hallen und Clubs für die Aufnahmen, da schwarze Musiker in New Orleans damals nur eingeschränkten Zugang zu Studios hatten. "American Music" blieb bis zu seiner letzten Aufnahme im Jahr 1953 ein Ein-Mann-Unternehmen Russells.
Mahalia Jacksons Assistent und Jazz-Archivar
Von 1947 bis 1950 lebte Russell wieder in seinem Elternhaus in Canton, Missouri. Anschließend zog er von 1950 bis 1956 nach Chicago. Dort nahm er 1950 kurzzeitig noch einmal Geigenunterricht beim Konzertmeister der Chicagoer Symphoniker. In dieser Zeit, speziell von 1953 bis 1956, war er der inoffizielle und unbezahlte Assistent von Mahalia Jackson. Er unterstützte sie umfassend bei Proben und Aufnahmen, verwaltete Korrespondenz, organisierte Tourneen, beschaffte Noten, führte Finanzprotokolle und war in nahezu jedem Bereich ihres täglichen Lebens eine unverzichtbare Stütze.
1956 zog Russell endgültig nach New Orleans, der Stadt, die sein Herz für den Jazz erobert hatte. Dort gründete er den Plattenladen "American Music Records". Sein Engagement für die Bewahrung des Jazz gipfelte 1958 in der Mitbegründung und seiner Rolle als erster Kurator der Hogan Jazz Archives an der Tulane University, wo er bis 1965 intensiv die Geschichte des frühen Jazz erforschte und zahlreiche Interviews führte.
Letzte Jahre und Vermächtnis in New Orleans
Nach einem kurzen Aufenthalt in Canton 1962 zur Pflege seiner Eltern und der Aufgabe seines Plattenladens zog Russell 1965 endgültig nach New Orleans. Er lebte in einem kleinen Zimmer im French Quarter und war fast jede Nacht in der Preservation Hall anzutreffen, wo er Tickets und Platten verkaufte und die Musik genoss. Er wurde zu einer zentralen Anlaufstelle für Jazz-Enthusiasten, die von seinem immensen Wissen profitierten. In den 1960er und 1970er Jahren reiste er viel durch Europa, um alte Instrumente (die er reparierte) und Autographen zu sammeln. Ab 1967 spielte er Violine im New Orleans Ragtime Orchestra und wurde weiterhin als anerkannter Jazzhistoriker konsultiert.
1988 verkaufte er die Rechte an "American Music" an George H. Buck von Jazzology. Auch im hohen Alter blieb er aktiv: 1990 wurden seine Kompositionen für Schlagzeug-Ensembles in New York aufgeführt. Kurz vor seinem Tod am 9. August 1992 vollendete er noch sein wichtiges Buch über Jelly Roll Morton, "Oh Mr. Jelly: A Jelly Roll Morton Scrapbook", das 1999 posthum erschien, und arbeitete an den Re-Issues seiner "American Music"-Aufnahmen.
Bill Russells Nachlass, die "William Russell Jazz Collection", befindet sich im Williams Research Center der Historic New Orleans Collection. Mit geschätzten 36.000 Einzelstücken und einem Gewicht von 86 Tonnen ist diese Sammlung ein Monument seines Lebenswerks – ein unschätzbarer Schatz für die Erforschung des Jazz und der amerikanischen Musikkultur. Russell war nicht nur ein Chronist, sondern ein leidenschaftlicher Hüter des kulturellen Erbes.
Unverzichtbarer Assistent
Als er 1950 nach Chicago zog, begann er, ihre Auftritte zu besuchen und ihre Proben mitzuschneiden. Diese erste Faszination mündete in eine ungewöhnliche Freundschaft.
Als Mahalias Karriere immer größere Wellen schlug, bot Russell seine Hilfe an – ein Angebot, das sich als Wendepunkt für beide erweisen sollte.
Die Ära von CBS und Columbia: Russells umfassender Beitrag
Russells Unterstützung fiel in eine entscheidende Phase für Mahalia Jackson: ihren Wechsel zu CBS und Columbia Records.
Dieser Übergang brachte neue Herausforderungen und erhöhte die Anforderungen an die Gospel-Sängerin. In dieser Zeit wurde Russell zu Mahalias “persönlichen Assistenten", der eine Vielzahl von Aufgaben übernahm, die weit über das Übliche hinausgingen.
Sekretariats- und Pressearbeit
Russell war das organisatorische Rückgrat. Er verwaltete Mahalias Korrespondenz, prüfte Anrufe, verfasste Programmnotizen und aktualisierte Pressemitteilungen – oft in nächtlicher Arbeit. Auch das Zusammenstellen von Zeitungsausschnitten in Sammelalben gehörte zu seinen Aufgaben.
Musikalische Unterstützung
Mit seinem musikalischen Hintergrund half Russell Mahalia beim Erlernen neuer Lieder für Proben, beschaffte Noten bei Lyon & Healy in Chicago und transponierte diese bei Bedarf. Er nahm Demobänder auf, vermittelte zwischen Mahalia und den Produktionsteams von CBS und Columbia und kümmerte sich um praktische Dinge wie den Verkauf von Eintrittskarten, das Auslegen von Flyern und die Anfertigung von Stichwortkarten. Seine Aufnahmen von Mahalias Proben waren zudem eine wichtige Grundlage für Arrangements. Gelegentlich half er auch anderen Jazz- und Gospelmusikern, was Mahalia manchmal eifersüchtig machte.
Persönliche Besorgungen
Russells Engagement reichte tief in Mahalias Privatleben hinein.
Er kaufte Obst ein, darunter Trauben, Bananen, Pflaumen, Erdbeeren, Wassermelonen und Orangen, die er sogar für sie entsaftete. Auch Hausarbeiten wie das Leeren von Mausefallen, das Reparieren von Vorhängen und Fensterflügeln sowie das Gießen von Pflanzen fielen in seinen Aufgabenbereich.
Finanzverwaltung
Mit akribischer Genauigkeit führte Russell ein detailliertes Protokoll über Mahalias Ausgaben und geliehene Geldbeträge. Er dokumentierte alles und betonte dabei stets, dass Mahalia ihm das Geld immer zurückzahlte.
Eine bemerkenswerte Hingabe mit komplexen Untertönen
Trotz der immensen Arbeitslast und der Tatsache, dass Mahalia ihn manchmal als selbstverständlich ansah oder gar ausnutzte, beklagte sich Bill Russell nie öffentlich.
In seinem Tagebuch mögen sich Spuren von Frustration finden, doch rückblickend
sagte er, er habe "die Zeit seines Lebens" mit ihr gehabt und es nicht bereut, in
Chicago geblieben zu sein, um sie kennenzulernen und singen zu hören. Seine Hingabe
war bemerkenswert und zeugt von einer tiefen Bewunderung für Jacksons Talent.
Ein unschätzbarer Beitrag zur Geschichte des Gospels
Russells Rolle in Mahalia Jacksons Leben wurde bisher oft übersehen, doch sein Beitrag zu ihrem Erfolg ist unbestreitbar. Seine umfangreiche Arbeit ermöglichte es Mahalia die neuen Herausforderungen des Wechsels zu großen Labels zu meistern und ihre Karriere auf die nächste Stufe zu heben. Seine akribische Dokumentation – die heute im “Bill Russell Archiv“ zu finden ist – bietet zudem einen unschätzbaren und intimen Einblick in Mahalias musikalisches Schaffen, ihr Alltagsleben und die Entwicklung des schwarzen Gospels im Chicago der 1950er Jahre. Mahalia Jackson hat Bill Russells unermüdlichem Einsatz viel zu verdanken. Die Beziehung zwischen Bill Russell und Mahalia Jackson war komplex und vielschichtig, geprägt von Bewunderung, Hingabe, aber auch einer gewissen Frustration und einem Ungleichgewicht. Doch dank Russells stillem, aber entscheidendem Wirken können wir heute ein umfassenderes Bild dieser Gospel-Ikone zeichnen. Sein Erbe ist ein wertvoller Schatz für die Musikgeschichte.
Das Bill Russell ein zeigenössischer Komponist war, wusste Mahalia lange Zeit nicht. Bis heute werden seine Werke, vor allem seine Kompositionen für Percussion Ensemble regelmäßig aufgeführt.
Fugue for Eight Percussion Instruments. Komposition aus dem Jahre 1931
Homage an Bill Russell von Thilo Plaesser
In Gedenken und in tiefer Anerkennung an Bill Russell, habe ich eine ausgiebige Klavier Suite improvisiert.
Die Tonsprache ist modernen, zeitgenössisch, die dem Komponisten angemessen ist. Aber auch seine (und meine) Leidenschaft für den Jazz habe ich berücksichtigt.
1. "mousetrap"
Hierbei handelt es sich um ein freitonales Präludium, das auch modalen Charakter durch die Verwendung des 2. Modus von Olivier Messiaen aufweist. "Jazzige Anspielungen sind durchaus gewollt".
2. "wine grapes"
Als Improvisationsvorlage diente eine 12 Tonreihe aus Anton Weberns Streichquartett op. 28.
Anton Webern war einer der ersten Schüler von Arnold Schönberg, so dass die Verbindung zu Bill Russell hergestellt ist. Verwendert werden Techniken wie Krebs, Spiegelung, Ostinato, Kanon.
3. "Jazzmen"
Hierbei handelt es sich um eine moderne jazzige Improvisaiton, die sich zum Schluss wieder einer traditionelleren Tonsprache bedient. Der Titel "Jazzmem" weißt auf die berühmte Sammlung aus dem Jahre 1939 hin, an der Russell beteiligt war.