Chicago - Mahalias Inspiration
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Chicago, eine Stadt voller Geschichte und Kultur, spielte eine unverzichtbare Rolle bei der Entstehung und Entwicklung der Gospelmusik. So sehr, dass der Autor Robert M. Marovich in seinem Werk "A City Called Heaven" Chicago als den eigentlichen Geburtsort der Gospelmusik bezeichnet. Diese Metropole war nicht nur ein Zentrum für musikalische Innovation, sondern auch die Bühne für den Aufstieg einer der größten Gospel-Ikonen aller Zeiten: Mahalia Jackson.
Der Einfluss Chicagos auf die Gospelmusik ist tiefgreifend und lässt sich an mehreren historischen Meilensteinen ablesen:
Geburt des modernen Gospels
Sechs entscheidende Wendepunkte in Chicago legten den Grundstein für die moderne Gospelmusik. Dazu gehört die erste bekannte kommerzielle Aufnahme, die typische Gospel-Techniken kombinierte: Arizona Dranes' "My Soul Is a Witness for My Lord" aus dem Jahr 1926.
Der erste Gospelchor
Ein Schlüsselmoment war die Gründung des ersten modernen Gospelchors durch Thomas A. Dorsey und Theodore R. Frye in der Ebenezer Baptist Church im Dezember 1931. Dies war der Startschuss für eine Bewegung, die bald die ganze Stadt erfassen sollte.
Grenzüberschreitende Verbreitung
Die in Chicago entwickelte Gospelmusik war nicht auf konfessionelle Grenzen beschränkt. Sie verbreitete sich über Noten, Tonträger, Radio und Fernsehen und überschritt dabei auch rassische und kulturelle Barrieren, wodurch sie ein breiteres Publikum erreichte.
Zentrum der Gospel-Szene
In den späten 1930er Jahren etablierte sich Chicago als das unangefochtene Zentrum für die Veröffentlichung und Aufführung von Gospelmusik. Nahezu jede schwarze Kirche in der Stadt verfügte über einen Gospelchor, was die Omnipräsenz dieser Musikform unterstreicht.
Wirtschaftliche Triebfeder
Die Gospelmusikindustrie (keine schönes Wort!) entstand in Chicago auch aus der Notwendigkeit des Unternehmertums afroamerikanischer Migranten. Angesichts begrenzter Beschäftigungsmöglichkeiten bot die Gospelmusik Künstlern, Songwritern, Verlegern, Radiosendern und Pastoren eine Möglichkeit, sich eine Existenz aufzubauen.
In den 1950er Jahren festigte Chicago seine Vorrangstellung in der Gospelmusik weiter:
Hochburg der Verlage und Künstler: Die meisten großen Gospelverlage und national angesehenen Gospelkünstler hatten ihren Sitz in Chicago, was die Stadt zur Drehscheibe der Branche machte.
Radio als Multiplikator
Gospelprogramme im Radio, die sonntags fast stündlich Gottesdienste ausstrahlten, trugen maßgeblich zur Verbreitung der Musik bei und machten sie einem noch größeren Publikum zugänglich.
Fernsehpräsenz
Die Stadt war auch der Ursprung von bahnbrechenden Fernsehprogrammen wie "TV Gospel Time" und "Jubilee Showcase". Letzteres war Chicagos am längsten laufende Fernsehsendung für Gospelmusik und ermöglichte es Zuschauern landesweit, Gospel-Darbietungen live zu erleben.
Eine komplexe Allianz
Die Beziehung zwischen der Gospel-Ikone Mahalia Jackson und dem langjährigen Chicagoer Bürgermeister Richard J. Daley ist ein faszinierendes, vielschichtiges Kapitel in der Geschichte der Bürgerrechtsbewegung und der Stadt Chicago. Sie war eine Partnerschaft, die auf gegenseitigem Respekt, politischer Berechnung und echter Zuneigung beruhte. Auf den ersten Blick schienen die Gospel-Sängerin aus der Südseite und der mächtige, weiße Bürgermeister der Demokratischen Partei ein ungleiches Duo zu sein. Doch ihre Beziehung war von einer Komplexität geprägt, die weit über oberflächliche Freundschaften hinausging.
Daley sah in Mahalia Jackson nicht nur eine kulturelle Berühmtheit, sondern auch eine wichtige Brücke zur afroamerikanischen Gemeinschaft, deren Stimmen für seine politischen Erfolge entscheidend waren. Er anerkannte ihre Bedeutung und wusste, wie man diese für seine Zwecke nutzen konnte. Für Mahalia Jackson bot die Beziehung zu Daley eine einzigartige Möglichkeit, die ihr zur Verfügung stehende Macht zu nutzen, um die Anliegen der schwarzen Gemeinschaft zu fördern und sich selbst zu schützen.
Mahalia Jackson war mehr als nur eine Sängerin – sie war Daleys "inoffizielle Beobachterin" und eine vertrauenswürdige Beraterin. Sie berichtete ihm über die Stimmungen und kritischen Situationen in der South Side, was Daley half, den Puls der Stadt zu fühlen und politische Spannungen frühzeitig zu erkennen. Im Gegenzug unterstützte Daley sie, wo er nur konnte. Er schützte ihr Haus, nachdem sie in ein überwiegend weißes Viertel gezogen war und rassistischen Bedrohungen ausgesetzt war. Daley entsandte Polizisten und bat das FBI, Ermittlungen aufzunehmen, was die Bedrohungen beendete. Er unterstützte auch ihre geschäftlichen Unternehmungen, wie die Mahalia Jackson Chicken Diners, und bot ihr Hilfe bei der Gründung einer Gospel-Gesangsschule an, was ihr sehr am Herzen lag.
Die Dynamik ihrer Beziehung zeigte sich besonders im Kontext der Bürgerrechtsbewegung. Obwohl Daley King privat misstraute, handelte er aufgrund von Jacksons Intervention. Sie war es, die ihn anrief und Daley überzeugte, King eine Plattform in Chicago zu bieten. Daley empfing King, trotz seiner persönlichen Vorbehalte, mit einem Lächeln und sorgte für einen glanzvollen Empfang. Mahalia wusste um Daleys politisches Kalkül und warnte King davor, ihn als "gerissenen Politiker" zu beschreiben.
Doch Mahalia scheute sich nicht davor, Daley auch persönlich zu konfrontieren. Während der Unruhen von 1968 forderte sie ihn auf, die Stadt zu "entfesseln". Daley reagierte mit einer Spende von 5.000 Dollar für ihr Wohltätigkeitsprogramm. Diese Episode zeigt, dass ihre Beziehung nicht nur auf politischer Gefälligkeit beruhte, sondern auch auf dem gegenseitigen Verständnis, dass Jackson ihre moralische Autorität nutzen konnte, um auf Daley einzuwirken.
Die Freundschaft zwischen den beiden war von tiefer Wertschätzung geprägt. Daley war auf Mahalia Jackson sichtlich stolz und ehrte sie bei verschiedenen Gelegenheiten, wie beispielsweise bei einem Benefizdinner, wo er öffentlich seine Bewunderung ausdrückte. Daley schickte ihr Blumen ins Krankenhaus und leitete ihre Trauerfeier, nachdem sie 1972 verstorben war. Als Zeichen seiner Wertschätzung erklärte er ihren Todestag in Chicago zum offiziellen Trauertag und bezeichnete sie als "Chicagos Berühmtheit Nummer eins".
Die Beziehung zwischen Mahalia Jackson und Bürgermeister Richard J. Daley (1902-1976) war eine komplizierte, aber letztendlich zutiefst produktive Partnerschaft. Sie zeigt, wie Jackson ihre Popularität und ihren Einfluss strategisch nutzte, um sich selbst und ihre Gemeinschaft zu schützen, während Daley eine wertvolle Verbündete fand, die ihm half, die komplizierte politische Landschaft Chicagos zu navigieren. Ihre Verbindung war ein starkes Beispiel dafür, wie Musik, Glaube und Politik in einer der turbulentesten Phasen der amerikanischen Geschichte miteinander verwoben waren. Mahalias langjährige Assistentin und Sekretärin Celestine „Polly“ Fletcher, arbeitete später als Sekträrin für Bürgermeister Daley in Chicago.
24.April 1961. Mahalia Jackson bekommt von Bürgermeister Richard J. Daley eine Verdienstmedallie überreicht.
© Ralph Walters, Chicago Sun-Times
Mahalia Jacksons Weg von einer jungen Frau aus New Orleans zu einer weltberühmten Sängerin ist untrennbar mit Chicago verbunden !
Ankunft und erste Schritte
Mahalia Jackson zog Ende November 1931 im Alter von 20 Jahren nach Chicago. Mit dem Traum, professionell zu werden – ursprünglich als Lehrerin oder Krankenschwester – fand sie zunächst Arbeit als Hausangestellte und in einer Dattelfabrik, bevor sie Vollzeit als Haushälterin arbeitete. Sie trat sofort dem Chor der Greater Salem Baptist Church bei und wurde schnell Solistin eines Quintetts, das sie auch durch Kirchen in der Stadt und darüber hinaus führte.
Die Johnson Singers
Mahalia wurde Teil der Johnson Singers, die oft als die erste professionelle Gospelgruppe angesehen werden. Ihre Theatralik und ihr fortschrittlicher Gesangsstil begeisterten das Publikum. Trotz anfänglicher Kritik von einigen konservativen Chicagoer Pastoren, die ihren emotionalen und "bluesigen" Stil als "blasphemisch" empfanden, blieb sie beharrlich bei ihrem einzigartigen Ausdruck. Ihre Wohnung und ihr Schönheitssalon in Chicago entwickelten sich zu einem beliebten Treffpunkt für Gospelmusiker und -sänger.
Zusammenarbeit mit Thomas A. Dorsey
In Chicago traf Mahalia Jackson den legendären Gospelkomponisten Thomas A. Dorsey, den "Vater der Gospelmusik". Er wurde ihr Mentor und Begleiter, und sie half ihm, seine neu geschriebenen Gospelsongs bekannt zu machen, indem sie sie an Straßenecken sang und später mit ihm auf Tournee ging.
Durchbruch und nationale Bekanntheit
Ihre ersten kommerziellen Aufnahmen für Decca machte sie 1937 in Chicago. Der wahre Durchbruch kam Anfang 1948 mit ihrer Aufnahme von "Move On Up a Little Higher" für Apollo Records. Diese in Chicago entstandene Aufnahme wurde Berichten zufolge der erste Millionenseller für Black Gospel und katapultierte Mahalia Jackson zu nationalem Ruhm. Der Chicagoer Radiomoderator Studs Terkel spielte eine entscheidende Rolle bei ihrer Entdeckung und Popularisierung, indem er ihre Platten spielte und sie in seiner Radiosendung interviewte, wodurch sie über die schwarze Kirchengemeinde hinaus bekannt wurde. Nach ihrem Vertrag mit CBS/Columbia Records im Jahr 1954 startete der Chicagoer Sender WBBM-TV die lokale Sendung "Mahalia Jackson Sings". Auch die öffentliche Vorstellung und Werbung für ihre nationale CBS-Radioshow fand in Chicago statt.
Dauerhaftes Vermächtnis in Chicago
Obwohl sie international berühmt wurde, blieb Mahalia Jackson stets in den lokalen Chicagoer Kirchen aktiv. Sie unterstützte zudem die Mahalia Jackson Scholarship Foundation, um aufstrebende Musikstudenten zu fördern. Ihr Traum war der Bau eines nicht-konfessionellen Tempels in Chicago, wo Kinder Musik lernen konnten. Nach ihrem Tod am 27. Januar 1972 wurde ihr Sarg in Chicago aufgebahrt. Der damalige Bürgermeister Richard Daley, ein enger Freund und Unterstützer, erklärte einen offiziellen Trauertag in der Stadt, ein Zeugnis der tiefen Verbundenheit zwischen Mahalia Jackson und der Stadt, die sie zu einer Legende machte.
Chicagos Einfluss auf die Gospelmusik und Mahalia Jacksons Karriere ist unbestreitbar. Die Stadt bot das fruchtbare Umfeld für die Entwicklung eines neuen Musikgenres und den Aufstieg einer einzigartigen Stimme, die Millionen von Menschen berührte. Chicago bleibt ein Leuchtturm in der Geschichte der Gospelmusik und ein wichtiger Ort im Vermächtnis von Mahalia Jackson.
©Thilo Plaesser